Angewandte Systemanalyse Band 20: Die nächsten fünfzig Jahre : Analyse und Szenarium der wirtschaftlichen Evolution

Müssen wir in der Bundesrepublik Deutschland langfristig mit einer Stagnation des Wirtschaftswachstums rechnen? Gibt es Anzeichen für einen Trend zur Dienstleistungsgesellschaft? Wandert die Grundstoffindustrie ins Ausland ab? Wie hoch ist die Wohnbevölkerung in 50 Jahren? Diese und andere Fragen werden in dem vorliegenden Bericht kritisch diskutiert. Das Ergebnis der Diskussion ist ein Basisszenarium, das die erwartete gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung des nächsten vor uns liegenden halben Jahrhunderts skizziert. Auf solch eine lange Sicht kann nur die Analyse säkularer Einflußgrößen überzeugende Ergebnisse liefern. Man muß sich von aktuellen Problemen und Kontroversen entfernen und versuchen die Gesellschaft ganzheitlich zu sehen, indem die zurwissenschaftlichen Betrachtung vorgenommene arbeitsteilige Gliederung in Wirtschafts-, Bildungs-, Erziehungs-, Energieund Rohstoffsystem, usw. zunächst einmal übergangen wird. Ein besonderes Gewicht kommt dabei der Analyse der Vergangenheit zu, und zwar nicht der statistisch-ökonometrischen, sondern der inhaltlichen Analyse der für eine Gesellschaftsentwicklung wichtigen Faktoren.Wir haben die Bundesrepublik Deutschland in ihrem Kulturkreis dargestellt und die Frage, ob die durch ihn konstituierten Wertvorstellungen Bestand haben werden, positiv beantwortet. Voraussetzung dafür ist aber, daß die gesamte Welt nicht dem Untergang entgegensteuert, der ihr von manchen Skeptikern geweissagt wird. Die Argumentation für eine Krise der Weltgesellschaft stützt sich im wesentlichen auf Annahmen zur Übervölkerung, Umweltbelastung und Rohstoffverknappung. Wir sind nach Abwägung der Gegenargumente zu dem Ergebnis gelangt, daß eine Betrachtung der zukünftigen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland durchaus sinnvoll ist, da ein Zusammenbruch der Weltgesellschaft mit großer Wahrscheinlichkeit nicht zu erwarten sein wird. Die qualitative Analyse der Faktoren, die die wirtschaftliche Evolution in der Bundesrepublik Deutschland bestimmen, setzt bei den Größen Arbeitspotential, Wissenspotential und Kapitalbildung an. Dabei haben wir vor allen Dingen die Frage behandelt, ob und wie diese Faktoren im Laufe der Zeit neu herangebildet werden, bevor wir uns dem Problem zuwandten, wie sie in Zukunft wirtschaftlich genutzt werden. Wir haben das durch das Zusammenspiel der Faktoren entstehende Wachstumspotential positiv bewertet und erhielten hier bereits Hinweise auf die Wachstumsmotoren der deutschen Wirtschaft. Wegen des vorwiegend technisch ausgebildeten Arbeitspotentials ist es zum einen das Investitionsgütergewerbe, und wegen der guten Kapitalausstattung auch im Forschungsbereich und der Flexibilität am Markt ist es zum anderen die Chemische Industrie. Ein weiterer Problemkreis war die Bevölkerungsvorausschätzung. Wir haben zu diesem Zweck ein Modell erstellt, das es erlaubt, insbesondere die sensitiven Parameter wie Fertilitätsraten, Sterberaten, Wanderungen, usw. jeweils getrennt nach Deutschen und Ausländern zu variieren. Nach unseren Rechnungen und Analysen weist das Modell bei einer wahrscheinlichen Entwicklung der Einflußparameter eine Bevölkerungshöhe im Jahre 2030 von 53,5 Mio Deutschen und 3,3 Mio Ausländern aus. Im Prognosezeitraum kommt es nicht zu gravierenden Strukturveränderungen in der Gesamtwirtschaft. Eine Entwicklung zur postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft mit einem schrumpfenden Produktionssektor findet nicht statt. Wir haben die Argumente von der Verwendungs- und der Entstehungsseite des Bruttoinlandsprodukts her abgeklopft und halten nach unseren Analysen eine langfristige Verlagerung zum tertiären Bereich für sehr unwahrscheinlich. Im Szenarium erleidet der sekundäre Sektor lediglich einen Anteilsverlust von etwa fünf Prozentpunkten. Innerhalb des verarbeitenden Gewerbes sehen wir aber sehr wohl Anzeichen für bemerkenswerte Strukturänderungen. So werden die Chemische Industrie und die Investitionsgüterindustrie ihren Anteil an der gesamten Wertschöpfung stark ausbauen. Die in der letzten Zeit modern gewordene Behauptung, die Grundstoffindustrie könnte wegen der Verteuerung des Energieeinsatzes ins Auslandabwandern, konnte durch keine Analyse bestätigt werden. Im Gegenteil : Die komparativen Vorteile der Bundesrepublik Deutschland in bezug auf technisch hochqualifizierte Arbeitskräfte wiegen die möglichen Nachteile auf. [...