Rilkes naturwissenschaftsfernes Weltbild und dessen poetischen Bedeutungen

Es ist das Fundament meiner Arbeit über Rilke, daß seine poetische Welt, wie ich schon bei anderen Gelegenheiten ausführlich erörtert, eine. sehr naturwissenschaftsferne, also sozusagen eine metaphysische sei. Auch der Dichter selbst habe nicht sehr viel Verständnis für die Naturwissenschaft überhaupt, was "Urgeräusch", eines seiner prosaischen Werke zufälligerweise verrät. Uberdies erinnere man sich an zahlreiche, mystische Episoden, die viele Biographen von Rilke oft mitteilten, ferner an übernatürliche, rätselhafte Szenen im Roman "Die Aufzeichnungen des M.L. Brigge". Wie sollte man sie denn auslegen, wenn nicht unter der Perspektive wie meiner? Auch in seinem Hauptwerk, "Duineser Elegien" beschreibt also Rilke eine mystische, metaphysische Welt, wo man je nach den Umständen ewiges Dasein bzw. Leben erreichen könne. Unter dem Wort "Tod" spinnt er in Wirklichkeit Träume von reichem Leben. Dies war dem Dichter, mit Nietzsche zu sprechen, ein Schicksal, das überhaupt niemand wiederholen oder nachahmen könnte. Nun, welche Bedeutungen sollten denn uns Modernen Rilkes Werke haben, wenn sie als solche verstanden würden? Man stelle sich dabei z.B. einen Regenbogen, eine Erscheinung von Natur vor. Nun, da wir alle wissen, wie und warum er zum Vorschein kommt, müßte uns schon Wunder und Schönheit des Regenbogens zur Hälfte verloren sein. Im krassen Gegensatz war wohl diese himmlische Brücke so viel wundervoller den Altertümlichen, die von der naturwissenschaftlichen Erklärung gar keine Ahnung hatten, daß sie darüber schöne Mythen schufen. In diesem Fall könnte man immer Phänomene im Kosmos bestaunen. Im wesentlichen Sinne leben: heißt das nicht, die Welt, alle Wesen so frisch und lebhaft zu fühlen? Heutzutage sind wir mit naturwissenschaftlichen Erklärungen umgeben, dadurch so beruhigt, und noch von der mit modernen Techniken ausgerüsteten Zivilisation so verwöhnt, daß uns die Gefühle sehr abgestumpft sind. Das zählt Konrad Lorenz zu den bedenklichen Symptomen der modernen, "zivilisierten Menschheit", indem er es "Wärmetod des Gefühls" nennt. Dagegen hat Rilkes Leben und Dichten, so befreit von den naturwissenschaftlichen Denkweisen, die schon allzu gewöhnlich sind, eine viel lebendigere Welt entwickelt und kann damit eine gründliche Kritik gegen die moderne Zivilisation bedeuten. Anderseits, was ein Gedicht betrifft: es würde wohl genügen, wenn es ihm gelingt, durch die äußerst geschickte Manipulation der Worte dem Lesenden eine Erschütterung zu geben; auch ein Gedanke ist im Gedicht, wie schon T.S. Eliot behauptete, nur bedeutsam, solang er zur "Emotion" beiträgt. Rilkes Lebens- und Denkart, sein fast unnaturwissenschaftliches Weltbild u.ä. müssen, von diesem Gesichtspunkt übers Gedicht aus, für die Poesie sehr günstig sein, denn die durch zwar naturwissenschaftliche, zugleich aber allzu banal gewordene Denkweisen kaum beschränkte Einbildungskraft kann, wie G. Bachelard im allgemeinen vortrefflich demonstrierte, unendlich schöpferisch wirken, und überdies, weil man, befreit von der Naturwissenschaft überhaupt, auf eine symbolische Art sehr bildhaft denkt, besteht des Dichters Weltbild aus belebten Bildern bzw. Symbolen, daher ist es selbst sehr poetisch