Vorraussetzungen und Erscheinungsformen des Staates in der deutschen Historiographie des 19. und 20. Jahrhunderts

In Deutschland wurden die Voraussetzungen der historisch-politischen Erforschung des Staates stärker als anderorts von der akademischen Fachwissenschaft Geschichte geschaffen. Diese Geschichtswissenschaft zeichnete sich infolge der soziokulturellen Prägung ihrer hauptsächlichen Vertreter und wegen ihrer spezifischen kulturell-politischen Einbettung durch Staatsnähe und Staatsbegünstigung aus. Dementsprechend entwik- kelte sie schon früh staatsüberhöhende Tendenzen, während kritische Ansätze in den Hintergrund traten. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurde zudem die borussianistische Richtung der deutschen Historiographie dominant. Auf diese Weise entstand ein am preußischen Leitmodell orientierter, unschwer national erweiterbarer universaler Etatismus, der in seinem Rahmen nicht nur die politische Geschichtsschreibung Deutschlands unvergleichbar befruchtete, sondern auch in weite Bereiche des politischkulturellen Lebens ganz Mitteleuropas ausstrahlte. In der Krise der Jahrhundertwende und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfuhr dieser Etatismus zwar Teilrevisionen, er wurde aber nicht grundsätzlich erschüttert. Noch 1973 mußte der Nestor der deutschen Geschichtswissenschaft Theodor Schieder daher ein erhebliches Defizit der deutschen Geschichtswissenschaft in Bezug auf die Historisierung und historisch-politische Problematisierung des Staates konstatieren. Seither wird diese Historisierung unter Verarbeitung außerdeutscher Forschungsperspektiven auf verschiedenen Teilgebieten vorangetrieben; besonders die Frühneuzeitforschung kann bereits auf erhebliche Erfolge verweisen. Nicht nur in ihrem Bereich, sondern auch auf den übrigen Arbeitsfeldern können dabei jedoch auch außberfachhistorische Ansätze deutscher Wissenschaftler wie z.B. Otto von Gierkes oder Max Webers fruchtbar gemacht werden, die international breite Akzeptanz gefunden haben.Weber Wolfgang. Vorraussetzungen und Erscheinungsformen des Staates in der deutschen Historiographie des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Visions sur le développement des États européens. Théories et historiographies de l'État moderne. Actes du colloque de Rome (18-31 mars 1990) Rome : École Française de Rome, 1993. pp. 169-202. (Publications de l'École française de Rome, 171