Hören, Schreiben, Vorlesen --Das Vorlesen in Kafkas Tagebuchnotizen und Briefen--

Die Forschung hält Kafkas Erzählung Das Urteil (1912) im Allgemeinen für einen Wendepunkt in seiner Auffassung über das Schreiben. Aus Kafkas Tagebuch erfahren wir, dass er diese Erzählung nach ihrer Fertigstellung seinen Schwestern vorgelesen hat. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren Vorlesungsabende mit Rezitatoren sehr beliebt. Kafka besuchte nicht nur solche Veranstaltungen, sondern hörte auch im privaten Kreis Lesungen seiner Freunde zu und las ihnen selbst aus eigenen Werken vor. Das zeigt, wie wichtig das Vorlesen ihm war, und es lässt sich davon ausgehen, dass es auch sein Verhältnis zum Schreiben beeinflusste. Bislang hat die Forschung sich aber fast ausschließlich mit den kulturellen und historischen Zusammenhängen zwischen dem Vorlesen und Kafkas Äußerungen darüber beschäftigt. In einer Tagebuchnotiz vom Januar 1912 schrieb Kafka über seine eigenen Lesungen, dass er, wenn er seinen Schwestern vorlese, mit dem vorgelesenen Text „in eins verfließ[en]“ könne, wie er wolle, während es ihm vor anderen nicht gelinge, den rechten Abstand zum Text zu wahren, wie sehr er auch danach strebe. Kata Gellen interpretiert diese Notiz so, dass Kafka hinsichtlich seines Wunsches, beim Vorlesen mit dem Text zu „verfließen“, Scham empfand und erkannte, dass die Stimme des Vorlesers „d[em] rein[en] Eindruck“ des Textes schadet. Etwa zur gleichen Zeit schrieb Kafka auch über jiddische Schauspiele und betrachtete die Beziehung zwischen den Akteuren und dem „Drama“. Bei Theateraufführungen fand er den Einfluss der Darsteller auf das „Drama“ wichtig. Sowohl beim Vorlesen als auch beim Schauspiel werde der vorgetragene Text von Vorlesern oder Schauspielern zuerst aufgelöst und danach rekonstruiert, und zwar in einer Weise, die Raum für die Phantasie der Zuhörer oder Zuschauer lasse. Es gibt aber einen Unterschied zwischen den Notizen über die jiddischen Schauspiele und der über das Vorlesen. Bei jenen schreibt Kafka immer aus der Sicht des Zuschauers, während er bei diesen nicht nur aus der Position des Zuhörers, sondern auch aus der des Vorlesers schreibt. In der Tagebuchnotiz vom Januar 1912 teilte Kafka seine Zuhörer beim Vorlesen in zwei Gruppen ein: seine Schwestern und andere. Aus seinen Briefen oder Tagebücher sehen wir, wie wichtig das Vorlesen für sein Schreiben war. Er schreibt, es gebe keinen „besseren Kritiker als mich während des Vorlesens vor dem höchst widerwillig zuhörenden Vater“. Kafka benutzte also das Vorlesen, um seiner eigenen Kritik gewahr zu werden. Sowohl in den Notizen über die jiddischen Schauspiele als auch in der über das Vorlesen wird deutlich, wie sehr Kafka sich für die jeweiligen Rezipienten interessierte. Ihm waren nicht nur der Vortrag, sondern auch die Reaktionen des Publikums von großer Bedeutung. Daher war der Akt des Schreibens für Kafka eng damit verbunden, sein Werk vor der Familie oder vor Freunden vorzulesen