Dürfen automatisierte Fahrzeuge Recht brechen? Zur rechtlichen Konzeption von Vorgaben für automatisierte Fahrzeuge

Ein automatisiertes Fahrzeug – SAE Level 4 (hochautomatisiertes Fahren)1 – fährt auf einer Landstraße. Die beiden Fahrbahnhälften sind durch eine durchgehende weiße Linie auf der Straße getrennt. Plötzlich verhindert ein umgefallener Baum die Weiterfahrt auf der eigenen Straßenhälfte. Auf der anderen Fahrspur kommt – so weit das Auge bzw. die Sensoren reichen – kein Verkehr entgegen. Darf das Auto die Bodenmarkierung überfahren, um die Fahrt fortsetzen zu können oder muss das Fahrzeug stehen bleiben? Variante: Ein automatisiertes Fahrzeug – SAE Level 4 – fährt auf einer Landstraße. Die beiden Fahrbahnhälften sind durch eine durchgehende weiße Linie auf der Straße getrennt. Ein achtjähriges Kind fährt auf einem Fahrrad in dieselbe Richtung. Regelkonformes Überholen (in Hinblick auf den Abstand zu dem Kind) würde das Überfahren der weißen Linie voraussetzen. Auf der anderen Fahrspur kommt – so weit das Auge bzw. die Sensoren reichen – kein Verkehr entgegen. Darf das Auto die Bodenmarkierung überfahren, um die Fahrt fortsetzen zu können, oder muss das Fahrzeug seine Geschwindigkeit reduzieren und hinter dem Kind geschwindigkeitsangepasst hinterherfahren? Die zwei hier vorgestellten Fallbeispiele adressieren eine zentrale Problemstellung im rechtlichen Umgang mit automatisierten Fahrzeugen. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass automatisierte Fahrzeuge kein Recht brechen dürfen, also dass die Verkehrsregeln von automatisierten Fahrzeugen – wie von allen anderen Straßenverkehrsteilnehmer*innen – einzuhalten sind. Bei näherer Betrachtung entsteht aber ein Spannungsverhältnis zwischen der Flüssigkeit und der Sicherheit des Verkehrs. Während beim menschlichen Umgang mit diesem Spannungsverhältnis der unter Ordnungswidrigkeit bzw. Strafe stehende Rechtsbruch eine Flexibilisierung des Verhaltens ermöglicht, steht diese Form der Verantwortlichkeit für automatisierte Fahrzeuge nicht im gleichen Ausmaß zur Verfügung. Ausgehend von rechtsvergleichenden Überlegungen (Österreich, Deutschland und Schweiz) zu den anfänglich geschilderten Szenarien (I.), werden in weiterer Folge allgemeine Strategien im Umgang mit den im Entstehen befindlichen Entwicklungen des automatisierten Fahrens diskutiert, um eine praxisnahe Lösung der geschilderten Problematik zu erzielen (II.)