Der Selektionsprozess beim Übertritt in die Sekundarstufe I. Eine qualitative Studie zur Perspektive von sozial wenig privilegierten Kindern

Alle Kinder sollen einen gerechten Zugang zur Bildung erhalten. Aus jüngerer Forschung geht jedoch hervor, dass vor allem im Zusammenhang mit der schulischen Selektion am Ende der Primarstufe Ungleichheiten im Bildungssystem bestehen. Es ist bekannt, dass für viele Schülerinnen und Schüler der Übertritt aufgrund ihrer sozialen Herkunft hindernisvoll sein kann. Über den Erfolg in der Schule entscheiden folglich nicht nur die Leistungen, sondern auch viele weitere Faktoren. In diesem Kontext liefern zahlreiche Studien Daten dazu, wie die subjektive Wahrnehmung der Lehrperson vom familiären Hintergrund des Kindes den Übertrittsentscheid beeinflusst. Weiter gibt es zahlreiche Studien, welche den Einfluss der Eltern auf den Übertritt untersuchen. Im Licht dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse ist aber zu fragen, wie die Betroffenen des Übertrittsverfahren selbst, nämlich die Schülerinnen und Schüler aus sozial wenig privilegierten Familienverhältnissen den Selektionsprozess wahrnehmen, welche Erfahrungen sie mit dem Schulübertritt machen und ob bzw. wie sie allfällige Bildungsungleichheiten erleben. Diese Arbeit verfolgt das Ziel, zur Schliessung dieser Lücke beizutragen und die Vorstellungen der Kinder bezüglich der schulischen Selektion am Ende der Primarstufe aufzuzeigen. Dazu wurden qualitative, halbstandardisierte Leitfadeninterviews mit acht wenig privilegierten Schülerinnen und Schülern aus der sechsten Primarstufe durchgeführt. Um die Vorstellungen ganzheitlich zu erfassen, lag der Untersuchung eine Längsschnittstudie zugrunde. Die Interviewpartnerinnen und Interviewpartner wurden dabei an zwei verschiedenen Erhebungszeitpunkten befragt. Die Interviewdaten wurden anhand einer qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet. Die Untersuchung zeigte, dass der Selektionsprozess einen hohen Stellenwert im Leben der Schülerinnen und Schüler einnimmt. So glauben alle interviewten Kinder, dass die Zuteilung in eine bestimmte Schulform ihre Zukunft wesentlich beeinflusst, was bei den Befragten unterschiedliche Emotionen auslöst. Weiter zeigte sich, dass das soziale Umfeld die Selbsteinschätzung der Kinder für die Zuteilung in eine bestimmte Schulform der Sekundarstufe I formt und beeinflusst. Die Übertrittsempfehlung der Lehrperson wird von den wenig privilegierten Lernenden akzeptiert sowie gerechtfertigt, sodass sich die befragten Kinder im Selektionsprozess nicht benachteiligt fühlen