Politik des Wahnsinns: Das Erzählen, Gedenken und Sakralisieren Şeywuşens (1930–1995) in Dersim, Türkei

Focusing on the memorialization, sacralization and politicization of madness through the case of the holy-madman Şeywuşen (Hüseyin Tatar, 1930–95), this dissertation explores the relationship between the political and spiritual spheres in the heavily militarized and politically contested landscape of Dersim (officially Tunceli) in eastern Turkey, the only city in Turkey where the Kurdish-Alevi population forms a majority. Tracing the life story of Şeywuşen allows reassessing the historical events that became landmarks in the collective memory of the contested landscape of Dersim: the genocidal violence experienced in 1915 and in 1938, the coup d’état of 1980 and military clashes between the Kurdish movement and the Turkish Armed Forces in the 1990s. Using historical and ethnographic material collected in Dersim, along with oral history interviews conducted with members of the Dersim diaspora living in Germany, the dissertation analyzes the ways in which the identity of Şeywuşen as a holy-madman is constructed as a metaphor for the injury caused by the racialized and secularized state violence and the source of therapeutic power to heal that injury. Analyzing the ways in which Şeywuşen has been memorialized and sacralized, the dissertation explores the particular experience of the political in a region that has been pathologized and labelled as “irrational” by diverse political actors throughout the late Ottoman period and in modern Turkey. Through a gendered analysis of the narrated reasons for Şeywuşen’s madness, it frames the formation of the holy-mad identity as the process of affliction of otherness that has been attributed to the region. Looking at rituals and practices woven around holy-mad figures, it conceptualizes holy-madness as a site where a brutally silenced past haunts the present in creative ways that allows bounded temporalities to be transcended and to construct different identity claims. The inauguration of a statue of Şeywuşen in Dersim during the 1990s enables an analysis of the limits of heroic and militarist representation in the Turkish public sphere. The dissertation proposes that tracing the political connotations of holy-madness challenges the limits of what can be articulated in the realm of politics through a special emphasis on what is not conducive to be instrumentalized by political or social movements. Shifting attention from what state violence destroys to what it produces, this dissertation contributes not only to studies on the Middle East but also to the history and anthropology of state violence. With its focus on the sacred characteristics of madness, it offers an original contribution to the contemporary literature on politics, which is widely discussed within the secular rational framework. Bringing into conversation the literature on space, state violence, and emotions, it illustrates that space-making cannot be thought of separately from the inscription of its spatial emotional regime. The dissertation also contributes to the literature on secularism by examining the challenge that representations of holy-madness, and the devotional practices woven around it, pose to secular conceptions of politics.Anhand der Biografie des göttlichen Wahnsinnigen (budela) Şeywuşen (Hüseyin Tatar, 1930-1995) untersucht diese Dissertation das Verhältnis von göttlichem Wahnsinn und staatlich-finanzierter Gewalt in der politisch heftig umstrittenen Region um Dersim (offiziell Tunceli) in der Ost-Türkei. Der Lebensgeschichte Şeywuşens folgend, denkt die Dissertation die politische Geschichte Dersims, der einzigen Stadt in der Türkei, in der die alevitisch-kurdische Bevölkerung in der Mehrheit ist, neu. Das Nachzeichnen der Lebensgeschichte Şeywuşens erlaubt eine Neubewertung der historischen Ereignisse, die eine zentrale Rolle im kollektiven Gedächtnis des umstrittenen Dersims spielen: die genozidale Gewalt von 1915 und 1938, der Staatsstreich von 1980 und die militärischen Auseinandersetzungen zwischen der kurdischen Bewegung und der türkischen Armee. Auf Grundlage historischer und ethnologischer Quellen aus Dersim und Oral History Interviews mit Mitgliedern der Dersimdiaspora in Deutschland analysiert die Dissertation die Rolle von staatlicher Gewalt in Narrativen und die emotionale Bindung an Figuren des göttlichen Wahnsinns. Durch die Analyse der Formen von Memorialisierung und Sakralisierung Şeywuşens untersucht die Dissertation die besondere Erfahrung des Politischen in einer Region, die durch diverse politische Akteure seit dem späten Osmanischen Reich und in der gesamten türkischen Geschichte immer wieder pathologisiert und als „irrational“ bezeichnet worden ist. Mithilfe einer Genderanalyse der vorgebrachten Gründe für Şeywuşens Wahnsinn fasst diese Studie die Entstehung einer Identität des göttlichen Wahnsinns als einen Prozess auf, der aus der Zuschreibung der Region als das „Andere“ entsteht. Indem sie Rituale und Praktiken um Figuren des göttlichen Wahnsinns untersucht, konzeptualisiert die Dissertation den göttlichen Wahnsinn als einen Ort, an dem gewaltsam unterdrückte Vergangenheit und emotionale Bindungen ausgedrückt werden. Der Fokus auf die Errichtung der Statue Şeywuşens in der politischen Atmosphäre der 1990er Jahre erlaubt es, die Grenzen heroischer und militaristischer Repräsentation in der türkischen Öffentlichkeit aufzuzeigen. Die Dissertation regt an, dass die Analyse der politischen Konnotationen des göttlichen Wahnsinns die Grenzen des Sagbaren im politischen Raum in Frage stellt. Dabei achtet sie besonders auf das, was nicht durch politische oder soziale Bewegungen instrumentalisiert werden kann. Indem sie die Aufmerksamkeit von dem, was staatliche Gewalt zerstört, auf das lenkt, was Gewalt hervorbringt, leistet diese Dissertation nicht nur einen Beitrag zu Studien des Nahen und Mittleren Ostens, sondern auch zur Geschichte und Anthropologie von staatlicher Gewalt. Durch ihren Fokus auf die göttlichen Eigenschaften von Wahnsinn trägt sie mit einem neuen Blickwinkel zur derzeitigen Literatur über das Politische bei, die größtenteils im säkular-rationalen Bereich bleibt. Indem sie die Literatur über Raum, staatliche Gewalt und Emotionen miteinander ins Gespräch bringt, zeigt die Studie, dass die Aushandlung von Raum untrennbar von den räumlichen emotionalen Ordnungen ist. Außerdem trägt die Dissertation zur Literatur des Säkularismus bei, indem sie die Herausforderung untersucht, die die Repräsentation göttlichen Wahnsinns und der damit verbundenen Andachtspraktiken an säkulare Konzepte des Politischen stellt