Auswirkung der vorübergehend fehlenden Rechtsgrundlage für Zwangsbehandlungen auf die stationäre Behandlung von Patienten mit schizophrenen und manischen Störungen

Hintergrund: Durch die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts von 2011 und des Bundesgerichtshofs von Juni 2012 war eine medikamentöse Zwangsbehandlung in Baden-Württemberg vorübergehend - außer in Notfallsituationen gemäß §34 StGB - für 7 Monate nicht mehr genehmigungsfähig. Eine Analyse auf der Basis von Routinedaten hatte gezeigt, dass bei einem kleinen Teil der Patienten die Anzahl von mechanischen Zwangsmaßnahmen und aggressiven Übergriffen signifikant anstiegen und nach Schließen der Gesetzteslücke durch eine Präzisierung im Gesetztestext im Februar 2013 wieder auf das ursprüngliche Niveau sanken. Die vorliegende Studie sollte mithilfe der Detailanalyse elektronischer Krankenakten aus sechs unterschiedlichen Klinikstandorte des ZfP Südwürttemberg darüber hinaus klären, welche Auswirkungen die fehlende Genehmigungsfähigkeit einer Zwangsbehandlung auf bisher noch nicht untersuchte Merkmale eines stationären Aufenthalts wie u.a. Häufigkeit von Medikamentenverweigerungen sowie die Umsetzbarkeit einer antipsychotischen Therapie hatten. Methode: In einem longitudinalen intraindividuellen Vergleich wurden Patienten mit manischen oder schizophrenen Störungen verglichen, die in beiden Zeiträumen (Untersuchungszeitraum: Periode fehlender Genehmigungsfähigkeit: Juli 2012-Februar 2013; Kontrollzeitraum: Gleiches Zeitfenster ein Jahr früher: Juli 2011-Februar 2012) mind. einen stationären Aufenthalt an einem der sechs untersuchten Klinikstandorte des ZfP Südwürttemberg (Bad Schussenried, Ehingen, Friedrichshafen, Wangen i. Allgäu, Weissenau, Zwiefalten) hatten (N= 174). Ergebnisse: In dem Zeitraum fehlender Genehmigungsfähigkeit von Zwangsbehandlungen nahm die Anzahl mechanischer Zwangsmaßnahmen signifikant zu (+49%), es kam zu einem signifikanten Anstieg der Anzahl von Isolierungen (+75%), Häufigkeit und Dauer von Fixierungen veränderten sich nicht. Die Patienten wurden in der Periode ohne die Möglichkeit einer Zwangsbehandlung signifikant häufiger stationär aufgenommen (+21%), bei einem signifikant höheren Patientenanteil war die Weiterbehandlung zum Zeitpunkt der Entlassung in der Zeit fehlender Genehmigungsfähigkeit nicht geregelt (+133%). Es kam zu signifikant häufigeren anhaltenden Medikamentenverweigerungen (+130%; p<.001) Ein unverändert hoher Anteil von Patienten nahm auch ohne die fehlende Möglichkeit der Anwendung von Zwang bei Entlassung eine antipsychotische Medikation ein (96,0% vs. 96,6%), die antipsychotische Entlassdosis unterschied sich nicht signifikant. Die Unterschiede zeigten sich sowohl bei freiwillig behandelten als auch bei untergebrachten Patienten. Schlussfolgerung: Trotz der fehlenden Behandlungsoption Zwangsbehandlung konnte in den meisten Fällen eine antipsychotische Therapie realisiert werden, Medikamente wurden jedoch (länger anhaltend) häufiger verweigert, es kam zu häufigeren Freiheitsentziehungen verschiedener Art