Karl Polanyi und der digitale Kapitalismus

Karl Polanyi dient als Inspirationsquelle um den digitalen Kapitalismus zu verstehen. Daher erläutern wir in dieser Masterarbeit Polanyis Konzept der „Einbettung“. Dieses besagt, dass die Wirtschaft in der Geschichte jahrtausendelang ein nichtdominanter Lebensbereich der Menschen war. Märkte spielten somit in früheren Gesellschaften nur eine marginale Rolle und eine Marktwirtschaft (also ein durch den Mechanismus von Angebot, Nachfrage und Preis zusammenhängendes System von Märkten) gab es nicht. Erst im 19. Jahrhundert kam es zur „großen Transformation“ hin zu einer Marktwirtschaft. Dafür mussten die von Polanyi bezeichneten „fiktiven Waren“ Arbeit, Land und Geld dem Marktmechanismus unterworfen werden. Auf diese im 19. Jahrhundert eingeleitete „Entbettung“ folgten sobald „Gegenbewegungen“, die versuchten die Wirtschaft wieder in die Gesellschaft „einzubetten“. Obwohl das Konzept der Einbettung in der Neuen Wirtschaftssoziologie eine wichtige Rolle spielt, zeigen wir, dass es hier durchaus unterschiedliche Auffassungen gibt. Schließlich übertragen wir Polanyis Terminologie auf das 21. Jahrhundert und argumentieren, dass der digitale Kapitalismus das Produkt einer politisch und technologisch getriebenen Entbettung ist. Diese Mischung aus Neoliberalismus und digitaler Technologie droht heute, sämtliche Lebensbereiche des Menschen in Daten zu verwandeln, die von digitalen Unternehmen gesammelt, weiterverarbeitet und profitträchtig verkauft werden. Diese Logik der digitalen Kapitalakkumulation geht mit einer zunehmenden Überwachung einher, durch die menschliches Verhalten zu einer neuen fiktiven Ware wird. Wenn es den digitalen KapitalistInnen nicht möglich ist, durch Enteignung an neue Verhaltensdaten zu gelangen, dann beauftragen sie digitale ArbeiterInnen. Diese schlecht bezahlten und nicht sozial abgesicherten ArbeiterInnen verrichten auf digitalen Arbeitsmärkten digitale Kleinstaufträge, womit die neuen Produktionsmittel des 21. Jahrhunderts gebaut werden.Karl Polanyi helps us to understand digital capitalism. Thus we elaborate Polanyis concept of “embeddedness” according to which the economy never was a dominant feature of human life for the most part of history. This means that markets played only a marginal role in past societies and a market economy (i.e. a system of markets interconnected by a mechanism of demand, supply and price) did not exist. In the 19th century, finally, a “great transformation” towards a market economy was initiated. This demanded that labor, land and money (which Polanyi termed “fictitious commodities”) become subordinated to the market mechanism. 19th century “disembeddedness” soon triggered “counter movements” which sought so “re-embed” the economy. The concept of embeddedness has also been widely adopted by the New Economic Sociology. As we show, there have been different conceptions of the concept though. Finally, we use Polanyis concept to analyze digital capitalism. We argue that a politically and technologically driven disembeddedness has occurred in the 21st century. This mix of neoliberalism and digital technology now endangers to convert every aspect of human life into data, which are collected, processed and sold with a profit by digital companies. This logic of digital capital accumulation leads to increased surveillance, which creates a new fictitious commodity: human behavior. If digital capitalists cannot get to behavioral data via expropriation, they employ digital workers. These are low paid workers without social security, who perform “microtasks” on digital labor markets, out of which the new means of production of the 21st century are built.Bernhard SieglZusammenfassungen in Deutsch und EnglischAbweichender Titel laut Übersetzung des Verfassers/der VerfasserinKarl-Franzens-Universität Graz, Masterarbeit, 2019(VLID)447948