Die Narbe des Odysseus: Auerbachs Überlegungen zur europäischen Literatur- und Kulturgeschichte in Istanbul

2014 erschien Kultur als Politik, die von Christian Rivoletti herausgegebene deutsche (Zurück-)Übersetzung der Aufsätze, Vorträge und kurzen Beiträge, die Erich Auerbach während seines Exils in Istanbul in türkischer Sprache veröffentlichen ließ. Neben Mimesis bilden diese Texte ein äußerst relevantes Dokument der ununterbrochenen Beschäftigung Auerbachs, der in Istanbul „Europäische Philologie“ lehrte, mit der westlichen Kulturgeschichte, deren Grundsätze und Protagonisten (Dante, Machiavelli, Montesquieu, Rousseau, Croce) er in seiner neuen Umgebung unter schwierigen Arbeitsbedingungen zu vermitteln hatte. Die räumliche und kulturelle Entfernung aus Nazi-Deutschland und die Abschottung vom etablierten akademischen Betrieb führten Auerbach dazu, den Standort der abendländischen Kultur aus einer neuen, transnationalen Perspektive kritisch zu betrachten. Zudem musste er einen prekären (obwohl im Großen und Ganzen gelungenen) Balanceakt zwischen den eigenen Forschungsinteressen und deren unvermeidlichen Popularisierung in einer Fremdsprache vollziehen. Im interkulturellen Grenzort Istanbul, einem zwischen Europa und Asien gelegenen in-between am Bosporus gewinnen Begriffe wie Weltliteratur, Plurikulturalität, Mehrsprachigkeit erst ihre besondere Ausprägung. Um den Zusammenhang zwischen Heimatverlust, dem historisch und geographisch multikulturellen Exilraum Istanbul und einem neuen Konzept der abendländischen Kultur, an deren Entstehung homerische und biblische Welt gleichermaßen – und in ihrer zueinander bestehenden Differenz– beteiligt sind, wird es in meinem Vortrag gehen. Auf die ethische Dimension von Auerbachs theoretischen Überlegungen, die bekanntlich die Bildung von postkolonialen Diskursen maßgeblich beeinflusst haben, soll auch eingegangen werden